Wednesday, 3. September 2008

Doppelbelichtungen: What's an ABBA? (Teil 2)

[Anm: der Artikel enthält zwei kurze Clips in mp3 Format aus einem ABBA-Song. Diese sind urheberrechtlich geschützt und von mir nur als Zitate im Sinne des "fair use" verwendet. Es hätte keine Möglichkeit gegeben, den beschriebenen Effekt anderweitig klarzumachen.]
--> zu Teil 1

II: Die Musik

Um eines vorweg klarzustellen: obwohl ich ABBA durchaus mag, kann man mich mit Karaokeversionen, Coverversionen, Musicalversionen und Musicalverfilmungsversionen von überforderten Schauspielern jagen. Für eine Würdigung der eigentlichen Qualitäten von ABBAs Songwriting sollte das eigene Wohnzimmer der beste Ort sein.

Natürlich ist hier nicht der Platz, jede Note und jeden Song der Band zu analysieren, weshalb ich vorhabe, ein paar Beispiele (und diese sehr tendenziös gewählt) aus ihrem Oeuvre zu nehmen (Singles, Albumtracks, B-Seiten), und die spezifische Funktion ihrer musikalischen Eigenschaften zu skizzieren. Eine umfangreichere Arbeit wäre mir nur mittels Scheck eines interessierten Verlages zu entlocken. Trotz des eher bescheidenen Rahmens entgehe ich damit doch den üblichen oberflächlichen Anmerkungen zur Musik: perfekter Gesang, herausragende Produktion, komplexe und innovative Arrangements, usw usf. Alles davon stimmt bis zu einem gewissen Grad, aber mit der einfachen Feststellung ist niemandem geholfen.

Natürlich würde es meist reichen, zur Beurteilung von Popmusik Argumente wie die eben genannten vorzubringen, doch ich möchte darauf hinweisen, daß die meisten davon schon auf den zweiten Blick wenig bedeuten: "Innovativ" im Vergleich wozu? Perfekter Gesang in welcher Hinsicht? Technisch? Emotional? Korrekt intoniert? Und die Produktion - wozu dient diese eigentlich? Zur Replikation der Eigenschaften akustischer Instrumente oder zur Kreation eines eigenständigen Klangbildes? Soll sie exzentrisch sein oder ausbalanciert? Auffällig oder unbemerkbar?

Dem Sinn der Reihe "Doppelbelichtungen" entsprechend möchte ich hier nicht nur Punkte anführen, die im engsten Sinn mit ABBA zu tun haben, sondern auch mit meiner eigenen Musikauffassung. Und obwohl ich für einen guten Beat oder eine eingängige Melodie viel übrig habe, gehen doch die besten Lieder weiter als das und verbinden Text und Musik zu einer Einheit.
Die Betonung von Authentizität in der Popmusik, eines der hartnäckigsten Klischees berhaupt, führt meist dazu, zu übersehen, daß sich die Emotion eines Sängers oder Instrumentalisten nur mittels Tönen und Rhythmus, der Phrasierung und der Intonation äußern können. Die persönliche Erfahrung trägt zweifellos dazu bei, den Kern eines Liedes zu verstehen oder die musikalische Intention besser zu gestalten, aber sie exisitiert nicht abseits eines Stils bzw. einer musikalischen Technik.
Ein offensichtliches Beispiel zeigt dies klar: "Heroin" von The Velvet Underground ist nicht deshalb so überaus gelungen, weil Lou Reed Erfahrungen mit harten Drogen hatte, sondern weil er den Effekt der Droge (für die meisten von uns nicht aus eigener Kenntnis überprüfbar), wenigstens eine nachvollziehbare Auswirkung (in dem Fall jedenfalls keinen schlechten Trip oder eine Überdosis) musikalisch umsetzen konnte: die simple I-IV Akkordverbindung von Reed erscheint durch den Orgelpunkt von John Cales Viola fast bewegungslos - die Percussion ist wie der Herzschlag und das zunehmende Tempo repräsentiert "the smack begin[ning] to flow". Die zyklische Verlangsamung des Songs reicht bis hin in den Text (den Gesang), wo das lang hinausgezogene "I" am Strophenanfang im Gegensatz zu den wortreichen späteren Zeilen steht.
Ich behaupte, daß viele den Song mit diesen Voraussetzungen einigermaßen glaubwürdig herüberbringen könnten. Man hört die Heroinabhängigkeit nicht in einer Performance. Man hört sie Eric Clapton bei "Bell Bottom Blues" nicht an und ebensowenig Ray Charles in "Georgia On My Mind". Case closed.

Ich habe "Heroin" deshalb als Beispiel gewählt, weil man dort die Verbindung von musikalischer und textlicher Aussage nicht übersehen kann. Bei ABBA ist dies meist weniger offensichlich, aber oft genug deutlich nachvollziehbar. Am ehesten könnte man noch die Paranoia von "The Visitors (Crackin' Up)" anführen, wo die Ängste der Protagonistin ("I hear the doorbell ring and suddenly a panic takes me", "none of my friends would be so stupidly impatient") durch Vocoder-Verfremdungen und einen Synthesizer-Teppich verdeutlicht werden, der manchmal (besonders das Riff nach dem Refrain) an Bowie circa Low erinnert. Die modale Melodiegestaltung trägt dazu noch mehr bei. Der mit Stereoeffekten arbeitende und sich bedrohlich aufbauende Vers wird von einem dumpfen (von Björns Stimme dominierten) Refrain abgelöst, der musikalisch ebenfalls keine echte Auflösung erfährt und in dem erwähnten Synthesizerbreak endet - die Anspannung der Musik steht in direkter Verbindung mit der des Textes. Dieser Track allein, obwohl erst auf dem letzten ABBA-Album zu finden, widerlegt deutlich den Verdacht einer allzu einfachen musikalischen Gestaltung.

Überhaupt ist es eins der wesentlichen Kennzeichen von ABBA, daß die Songs nur in seltenen Fällen mit einer einzigen musikalischen Idee (einem Hook, einer Melodie oder einem Riff) aufwarten, und sehr oft mehrere davon zu einem dichten Ganzen verbinden. Hier ist durchaus nachvollziehbar, warum etwa Elvis Costello, der eine ähnliche Arrangiermethode hat, ABBAs Musik etwas abgewinnen kann. Ein hervorragendes Beispiel für diese Technik ist "Take A Chance On Me", wo schon im a-cappella-Intro die Multitrack Stimmen Björns ("Take a chance, take a chance, take a cha-ka-chance-chance...") mit der Refrain-Melodie von Annifrid und Agnetha verbunden werden. Doch statt diese auf das Intro zu beschränken, bleiben sie auch im voll instrumentierten Refrain bestehen, um von einem verhältnismäßig offenen, lockeren Vers abgelöst zu werden, wo jedoch allerlei Instrumente Licks neben der eigentlichen Gesangsmelodie spielen (um von den backing vocals ganz abzusehen). Vielleicht ist es zuviel verlangt, sich dieses Arrangement im Stil einer typischen Rockband vorzustellen, wo vieles von dem, was den Track besonders macht, wegfallen würde. Den Effekt einer solchen Vorgehensweise kann man allerdings auch an "I Have A Dream" erahnen. Dort finden wir nur eine Akustikgitarre (ich vermute, daß es in Wirklichkeit ein paar mehr sind, aber das tut wenig zur Sache), einen unspektakulären Bass, eine Art Synthie-Lick und eine simpel gesungene Strophe, die dreimal beinah identisch (musikalisch gesprochen) vorgetragen wird. Beim ersten Mal von einer einzigen Stimme, beim zweiten von Multitrack-Stimmen der ganzen Band und beim dritten Mal gemeinsam mit einem Kinderchor. Keine Gegenmelodien, keine besonderen rhythmischen Einfälle, unisono-Gesang. Ob dies der einzige Grund dafür ist, sei dahingestellt, aber ich mußte mich sogar zwingen, das Lied für diese Beschreibung erneut anzuhören. Ein absoluter Tiefpunkt in ABBAs Schaffen, eine banale, schmalzige Musicalnummer.

Freilich ist auch die Komplexität der Arrangements keine Garantie für den Erfolg eines Songs. Ich mag den Song "Chiquitita", und viele Ideen darin, liebe geradezu die kleine Gegenmelodie in der zweiten Strophe (clip1 (mp3, 227 KB)), doch fand immer, daß der Stomp des Refrains und die Quinte des Wechselbasses etwas zu plump daherkamen, um ernstgenommen werden zu können. Interessanterweise wurde dies in der spanischen Version (ich glaube, ca. ein Jahr nach dem Original aufgenommen) soweit behoben, daß meine unangenehme Reaktion beinah ausbleibt. (clip2 (mp3, 508 KB)) Im Soundbeispiel finden sich die Versionen chronologisch nacheinander. Der deutlichste Unterschied ist für meine Ohren, daß die Snare auf 3 von der deutlichen Position im linken Kanal (Original) irgendwohin in den Mittelkanal verschwindet, wo sie nicht mehr allzu sehr nach einer Aufforderung zum Mitschunkeln klingt. Hier wird deutlich, wozu die Produktion imstande ist. Eine Veränderung des Mixes allein verändert völlig den Eindruck, den eine Passage in einem Song hinterläßt. Ich wüßte gerne, wie ABBA geklungen hätten, wenn Björn und Benny nicht mitten in die Discobewegung gelangt wären, mit den vielen Synthesizern und den Betonungen auf jedem Beat. Ein paar der frühen rockorientierten Singles lassen es erahnen. Ich möchte nur "S.O.S." zitieren, und "Mamma Mia", vielleicht "Waterloo" (obwohl ich immer fand, daß dem Song etwas fehlt - die Strophe ist eigentlich besser als der Refrain. Ob es ein Zufall ist, daß das Klavierriff daraus später für den Refrain von "Dancing Queen" imitiert wurde?).
Trotz dieser Orientierung am zeitgenössischen Markt ist die Bandbreite ABBAs nicht ganz so schmal wie man es ihnen gerne unterstellt. Vor allem möchte ich noch einmal (und immer wieder einmal) darauf hinweisen, daß "The Essential ABBA" keineswegs nur aus Singles bestehen sollte. Albumtracks wie "If It Wasn't For The Night" oder "Like An Angel Passing Through My Room" sind brillant. Geradezu "versteckte" Aufnahmen wie "Knowing Me, Knowing You", das für "Gracias por la música" 1980 nach fast vier Jahren als "Conociéndome, Conociéndote" auf Spanisch neu eingesungen wurde, überraschen anderweitig: der Song enthält in dieser Version mehr Gitarrenlicks von Lasse Wellander - waren die zuvor weggemischt worden? Angeblich sollen ja keine Neuaufnahmen für die Backingtracks durchgeführt worden sein. Jedenfalls verschaffen sie der E-Gitarre eine Präsenz im Lied, die das bekannte Riff am Ende des Refrains nicht ganz so aus der Luft gegriffen wirken lassen.

Ein letzter Ort, der mittels der Bonustracks der aktuellen CD-Remaster bedeutend näher gerückt ist, und an dem hervorragende Songs zu finden sind, waren die B-Seiten von ABBA-Singles. Ich bin früh mit einer der allerbesten in Kontakt gekommen, "Elaine", der B-Seite von "The Winner Takes It All" und definitiv besser als Seite A. Was war ich froh, als der Titel Anfang der 2000er als Bonustrack erneut erhältlich war. Doch eine weitere, noch herausragendere Nummer war nur die flip side von "Chiquitita": "Lovelight". Einmal mehr finden wir alle oben beschriebenen Eigenschaften, die ABBA trotz aller anderweitigen Bedenken so spannend machen. Gegenmelodien, die stets spannende Kombination von Frauen- und Männerstimmen für die Backing Vocals, und ein Effekt, der unübertroffen ist, und einmal mehr die kompositorische Finesse von Andersson/Ulvaeus beweist. YouTube stellt den Titel zur Verfügung. Ich möchte die erste Strophe zitieren und dabei beschreiben, was musikalisch geschieht. Nach einem triumphanten Intro sinken die Instrumente zusammen zu einem etwas undurchsichtigen Soundteppich aus Baß, Gitarren, Drums und Synthesizern. Perfekt jedoch für die Traurigkeit der ersten Zeile, mit angebrachter beinahe-Teilnahmslosigkeit vorgetragen:


I've always hated my room, it's so gloomy and weary
Always too dark, for the windows just face the backyard

So I...
[die Synthies erheben sich langsam, bringen mit einem Akkordwechsel etwas Bewegung in die Sache]
can't understand how it's happened how everything's changing
This old dirty ceiling seems a little whiter
[ein fröhlicher "doot-doo-doo" Backgroundchor frischt die Szene auf]
When you walked into my room it all got
[und an dieser Stelle wird die Tonart im Bass eindeutig verankert, das Stereospektrum öffnet sich und der Synthienebel zerreißt]
so much brighter

You must have a lovelight - everything around you is lovelight - shining like a star in the night

Wer hier nicht merkt, daß die Sonne zu scheinen begonnen hat, der ist wohl taub für die musikalische Sprache, der sich alle hier mit einer Leichtigkeit bedienen, als könnte man Musik gar nicht anders machen. Das Argument lautet keinesfalls, daß ABBA stets Meisterwerke abliefern, aber daß es in ihrer Reichweite liegt, solche Momente zu kreieren, macht sie für mich interessanter als viele andere Bands, deren Image leichter verdaulich und deren Texte weniger oft peinlich sind.

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roland_and_his_burning_nose - 27. Apr, 21:26
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