Doppelbelichtungen

Wednesday, 3. September 2008

Doppelbelichtungen: What's an ABBA? (Teil 2)

[Anm: der Artikel enthält zwei kurze Clips in mp3 Format aus einem ABBA-Song. Diese sind urheberrechtlich geschützt und von mir nur als Zitate im Sinne des "fair use" verwendet. Es hätte keine Möglichkeit gegeben, den beschriebenen Effekt anderweitig klarzumachen.]
--> zu Teil 1

II: Die Musik

Um eines vorweg klarzustellen: obwohl ich ABBA durchaus mag, kann man mich mit Karaokeversionen, Coverversionen, Musicalversionen und Musicalverfilmungsversionen von überforderten Schauspielern jagen. Für eine Würdigung der eigentlichen Qualitäten von ABBAs Songwriting sollte das eigene Wohnzimmer der beste Ort sein.

Natürlich ist hier nicht der Platz, jede Note und jeden Song der Band zu analysieren, weshalb ich vorhabe, ein paar Beispiele (und diese sehr tendenziös gewählt) aus ihrem Oeuvre zu nehmen (Singles, Albumtracks, B-Seiten), und die spezifische Funktion ihrer musikalischen Eigenschaften zu skizzieren. Eine umfangreichere Arbeit wäre mir nur mittels Scheck eines interessierten Verlages zu entlocken. Trotz des eher bescheidenen Rahmens entgehe ich damit doch den üblichen oberflächlichen Anmerkungen zur Musik: perfekter Gesang, herausragende Produktion, komplexe und innovative Arrangements, usw usf. Alles davon stimmt bis zu einem gewissen Grad, aber mit der einfachen Feststellung ist niemandem geholfen.

Natürlich würde es meist reichen, zur Beurteilung von Popmusik Argumente wie die eben genannten vorzubringen, doch ich möchte darauf hinweisen, daß die meisten davon schon auf den zweiten Blick wenig bedeuten: "Innovativ" im Vergleich wozu? Perfekter Gesang in welcher Hinsicht? Technisch? Emotional? Korrekt intoniert? Und die Produktion - wozu dient diese eigentlich? Zur Replikation der Eigenschaften akustischer Instrumente oder zur Kreation eines eigenständigen Klangbildes? Soll sie exzentrisch sein oder ausbalanciert? Auffällig oder unbemerkbar?

Dem Sinn der Reihe "Doppelbelichtungen" entsprechend möchte ich hier nicht nur Punkte anführen, die im engsten Sinn mit ABBA zu tun haben, sondern auch mit meiner eigenen Musikauffassung. Und obwohl ich für einen guten Beat oder eine eingängige Melodie viel übrig habe, gehen doch die besten Lieder weiter als das und verbinden Text und Musik zu einer Einheit.
Die Betonung von Authentizität in der Popmusik, eines der hartnäckigsten Klischees berhaupt, führt meist dazu, zu übersehen, daß sich die Emotion eines Sängers oder Instrumentalisten nur mittels Tönen und Rhythmus, der Phrasierung und der Intonation äußern können. Die persönliche Erfahrung trägt zweifellos dazu bei, den Kern eines Liedes zu verstehen oder die musikalische Intention besser zu gestalten, aber sie exisitiert nicht abseits eines Stils bzw. einer musikalischen Technik.
Ein offensichtliches Beispiel zeigt dies klar: "Heroin" von The Velvet Underground ist nicht deshalb so überaus gelungen, weil Lou Reed Erfahrungen mit harten Drogen hatte, sondern weil er den Effekt der Droge (für die meisten von uns nicht aus eigener Kenntnis überprüfbar), wenigstens eine nachvollziehbare Auswirkung (in dem Fall jedenfalls keinen schlechten Trip oder eine Überdosis) musikalisch umsetzen konnte: die simple I-IV Akkordverbindung von Reed erscheint durch den Orgelpunkt von John Cales Viola fast bewegungslos - die Percussion ist wie der Herzschlag und das zunehmende Tempo repräsentiert "the smack begin[ning] to flow". Die zyklische Verlangsamung des Songs reicht bis hin in den Text (den Gesang), wo das lang hinausgezogene "I" am Strophenanfang im Gegensatz zu den wortreichen späteren Zeilen steht.
Ich behaupte, daß viele den Song mit diesen Voraussetzungen einigermaßen glaubwürdig herüberbringen könnten. Man hört die Heroinabhängigkeit nicht in einer Performance. Man hört sie Eric Clapton bei "Bell Bottom Blues" nicht an und ebensowenig Ray Charles in "Georgia On My Mind". Case closed.

Ich habe "Heroin" deshalb als Beispiel gewählt, weil man dort die Verbindung von musikalischer und textlicher Aussage nicht übersehen kann. Bei ABBA ist dies meist weniger offensichlich, aber oft genug deutlich nachvollziehbar. Am ehesten könnte man noch die Paranoia von "The Visitors (Crackin' Up)" anführen, wo die Ängste der Protagonistin ("I hear the doorbell ring and suddenly a panic takes me", "none of my friends would be so stupidly impatient") durch Vocoder-Verfremdungen und einen Synthesizer-Teppich verdeutlicht werden, der manchmal (besonders das Riff nach dem Refrain) an Bowie circa Low erinnert. Die modale Melodiegestaltung trägt dazu noch mehr bei. Der mit Stereoeffekten arbeitende und sich bedrohlich aufbauende Vers wird von einem dumpfen (von Björns Stimme dominierten) Refrain abgelöst, der musikalisch ebenfalls keine echte Auflösung erfährt und in dem erwähnten Synthesizerbreak endet - die Anspannung der Musik steht in direkter Verbindung mit der des Textes. Dieser Track allein, obwohl erst auf dem letzten ABBA-Album zu finden, widerlegt deutlich den Verdacht einer allzu einfachen musikalischen Gestaltung.

Überhaupt ist es eins der wesentlichen Kennzeichen von ABBA, daß die Songs nur in seltenen Fällen mit einer einzigen musikalischen Idee (einem Hook, einer Melodie oder einem Riff) aufwarten, und sehr oft mehrere davon zu einem dichten Ganzen verbinden. Hier ist durchaus nachvollziehbar, warum etwa Elvis Costello, der eine ähnliche Arrangiermethode hat, ABBAs Musik etwas abgewinnen kann. Ein hervorragendes Beispiel für diese Technik ist "Take A Chance On Me", wo schon im a-cappella-Intro die Multitrack Stimmen Björns ("Take a chance, take a chance, take a cha-ka-chance-chance...") mit der Refrain-Melodie von Annifrid und Agnetha verbunden werden. Doch statt diese auf das Intro zu beschränken, bleiben sie auch im voll instrumentierten Refrain bestehen, um von einem verhältnismäßig offenen, lockeren Vers abgelöst zu werden, wo jedoch allerlei Instrumente Licks neben der eigentlichen Gesangsmelodie spielen (um von den backing vocals ganz abzusehen). Vielleicht ist es zuviel verlangt, sich dieses Arrangement im Stil einer typischen Rockband vorzustellen, wo vieles von dem, was den Track besonders macht, wegfallen würde. Den Effekt einer solchen Vorgehensweise kann man allerdings auch an "I Have A Dream" erahnen. Dort finden wir nur eine Akustikgitarre (ich vermute, daß es in Wirklichkeit ein paar mehr sind, aber das tut wenig zur Sache), einen unspektakulären Bass, eine Art Synthie-Lick und eine simpel gesungene Strophe, die dreimal beinah identisch (musikalisch gesprochen) vorgetragen wird. Beim ersten Mal von einer einzigen Stimme, beim zweiten von Multitrack-Stimmen der ganzen Band und beim dritten Mal gemeinsam mit einem Kinderchor. Keine Gegenmelodien, keine besonderen rhythmischen Einfälle, unisono-Gesang. Ob dies der einzige Grund dafür ist, sei dahingestellt, aber ich mußte mich sogar zwingen, das Lied für diese Beschreibung erneut anzuhören. Ein absoluter Tiefpunkt in ABBAs Schaffen, eine banale, schmalzige Musicalnummer.

Freilich ist auch die Komplexität der Arrangements keine Garantie für den Erfolg eines Songs. Ich mag den Song "Chiquitita", und viele Ideen darin, liebe geradezu die kleine Gegenmelodie in der zweiten Strophe (clip1 (mp3, 227 KB)), doch fand immer, daß der Stomp des Refrains und die Quinte des Wechselbasses etwas zu plump daherkamen, um ernstgenommen werden zu können. Interessanterweise wurde dies in der spanischen Version (ich glaube, ca. ein Jahr nach dem Original aufgenommen) soweit behoben, daß meine unangenehme Reaktion beinah ausbleibt. (clip2 (mp3, 508 KB)) Im Soundbeispiel finden sich die Versionen chronologisch nacheinander. Der deutlichste Unterschied ist für meine Ohren, daß die Snare auf 3 von der deutlichen Position im linken Kanal (Original) irgendwohin in den Mittelkanal verschwindet, wo sie nicht mehr allzu sehr nach einer Aufforderung zum Mitschunkeln klingt. Hier wird deutlich, wozu die Produktion imstande ist. Eine Veränderung des Mixes allein verändert völlig den Eindruck, den eine Passage in einem Song hinterläßt. Ich wüßte gerne, wie ABBA geklungen hätten, wenn Björn und Benny nicht mitten in die Discobewegung gelangt wären, mit den vielen Synthesizern und den Betonungen auf jedem Beat. Ein paar der frühen rockorientierten Singles lassen es erahnen. Ich möchte nur "S.O.S." zitieren, und "Mamma Mia", vielleicht "Waterloo" (obwohl ich immer fand, daß dem Song etwas fehlt - die Strophe ist eigentlich besser als der Refrain. Ob es ein Zufall ist, daß das Klavierriff daraus später für den Refrain von "Dancing Queen" imitiert wurde?).
Trotz dieser Orientierung am zeitgenössischen Markt ist die Bandbreite ABBAs nicht ganz so schmal wie man es ihnen gerne unterstellt. Vor allem möchte ich noch einmal (und immer wieder einmal) darauf hinweisen, daß "The Essential ABBA" keineswegs nur aus Singles bestehen sollte. Albumtracks wie "If It Wasn't For The Night" oder "Like An Angel Passing Through My Room" sind brillant. Geradezu "versteckte" Aufnahmen wie "Knowing Me, Knowing You", das für "Gracias por la música" 1980 nach fast vier Jahren als "Conociéndome, Conociéndote" auf Spanisch neu eingesungen wurde, überraschen anderweitig: der Song enthält in dieser Version mehr Gitarrenlicks von Lasse Wellander - waren die zuvor weggemischt worden? Angeblich sollen ja keine Neuaufnahmen für die Backingtracks durchgeführt worden sein. Jedenfalls verschaffen sie der E-Gitarre eine Präsenz im Lied, die das bekannte Riff am Ende des Refrains nicht ganz so aus der Luft gegriffen wirken lassen.

Ein letzter Ort, der mittels der Bonustracks der aktuellen CD-Remaster bedeutend näher gerückt ist, und an dem hervorragende Songs zu finden sind, waren die B-Seiten von ABBA-Singles. Ich bin früh mit einer der allerbesten in Kontakt gekommen, "Elaine", der B-Seite von "The Winner Takes It All" und definitiv besser als Seite A. Was war ich froh, als der Titel Anfang der 2000er als Bonustrack erneut erhältlich war. Doch eine weitere, noch herausragendere Nummer war nur die flip side von "Chiquitita": "Lovelight". Einmal mehr finden wir alle oben beschriebenen Eigenschaften, die ABBA trotz aller anderweitigen Bedenken so spannend machen. Gegenmelodien, die stets spannende Kombination von Frauen- und Männerstimmen für die Backing Vocals, und ein Effekt, der unübertroffen ist, und einmal mehr die kompositorische Finesse von Andersson/Ulvaeus beweist. YouTube stellt den Titel zur Verfügung. Ich möchte die erste Strophe zitieren und dabei beschreiben, was musikalisch geschieht. Nach einem triumphanten Intro sinken die Instrumente zusammen zu einem etwas undurchsichtigen Soundteppich aus Baß, Gitarren, Drums und Synthesizern. Perfekt jedoch für die Traurigkeit der ersten Zeile, mit angebrachter beinahe-Teilnahmslosigkeit vorgetragen:


I've always hated my room, it's so gloomy and weary
Always too dark, for the windows just face the backyard

So I...
[die Synthies erheben sich langsam, bringen mit einem Akkordwechsel etwas Bewegung in die Sache]
can't understand how it's happened how everything's changing
This old dirty ceiling seems a little whiter
[ein fröhlicher "doot-doo-doo" Backgroundchor frischt die Szene auf]
When you walked into my room it all got
[und an dieser Stelle wird die Tonart im Bass eindeutig verankert, das Stereospektrum öffnet sich und der Synthienebel zerreißt]
so much brighter

You must have a lovelight - everything around you is lovelight - shining like a star in the night

Wer hier nicht merkt, daß die Sonne zu scheinen begonnen hat, der ist wohl taub für die musikalische Sprache, der sich alle hier mit einer Leichtigkeit bedienen, als könnte man Musik gar nicht anders machen. Das Argument lautet keinesfalls, daß ABBA stets Meisterwerke abliefern, aber daß es in ihrer Reichweite liegt, solche Momente zu kreieren, macht sie für mich interessanter als viele andere Bands, deren Image leichter verdaulich und deren Texte weniger oft peinlich sind.

Friday, 22. August 2008

Doppelbelichtungen: What's an ABBA? (Teil 1)

[Kollege Turntable hat einen kurzen Artikel über ABBA gepostet, worin er u.a. schreibt: "auch wurde von der ersten bis zur letzten single praktisch die selbe masche durchgezogen. experimentiert (sofern überhaupt) wurde maximal auf b-seiten. so kann ich mich auch nicht erinnern, je ein interview mit einem musiker gelesen zu haben, der sich auf ABBA als einfluß beruft". Nun, jedem das seine, aber ich hoffe, mit diesem Essay meine Position zur Band zu verdeutlichen und (im zweiten Teil) wenigstens das Argument mit der "selben Masche" widerlegen zu können.]

Bei den meisten Popbands zählt das Image soviel wie die Musik, wenigstens in den Augen des Publikums. Dieses ist wohl ebensosehr ausschlaggebend für die zahlreichen Genrebezeichnungen wie Nuancen von Gitarrenverzerrung. Akzeptieren wir diese Prämisse, haben ABBA keine Chance. Das grauenhafte Namenslogo mit dem umgekehrten B alleine ist so tacky wie bombastisch (der Gipfel ist wohl das Cover des Livealbums, wo ein gezeichnetes gigantisches Bühnenset aus zwei goldenen As und Bs in pseudo-3D von einer Truppe Roadies aufpoliert wird). Dann die ewige Assoziation mit Discomusik. Dann die Musicals! Vom Film Mamma Mia! ganz zu schweigen. Und die Outfits. Hautenge Jeansanzüge, Polyesterkleider, bis zum Bauchnabel offene Hawaiihemden und Goldkettchen. Zügellose Hingabe zu jeder modischen Schnurre der Siebziger.

Vielleicht ist das alles eher der Hinweis darauf als die Konsequenz davon, daß ABBA P o p sind und nichts anders, aber sich damit abfinden, in einer so ernsten und auf das Image bedachten Welt wie der des seriösen Pop-Hörers ist fast unmöglich. Ein allzu leichtes Gegenbild vom individuell-eklektischen Hörer zeichnet sich ab, der ABBA schon allein deshalb gut finden kann, weil sie so ungeniert und fröhlich der Massenkultur frönen. Wir sind alle Pop, Baby! Unsinn.

Also, was sagen die Musiker? Ihnen können wir uns zuwenden, wenn wir eine Qualitätsgarantie abseits von einem so unzweifelhaft unmöglichen Image wollen (die hohe Schule der überzogenen Selbstironie wie sie in Schwulendiscos gepflegt wird, steigt freilich nur allzu gern auf schlechtes Makeup und Federboas ein - für sie ist ABBA ein gefundenes Fressen).
Ein paar Beispiele:

1. Gene Simmons (in einem Interview mit laut.de):
"In Wirklichkeit sind alle Menschen dreidimensional. Ich bin mir sicher, dass Leute, die sich in der Öffentlichkeit zu Rammstein bekennen, zuhause auch heimlich ABBA hören – weil es einfach gute Musik ist."
ein paar Zeilen später lobt er aber auch noch die Backstreet Boys ("cleveres Songwriting")? Geht das? Kann man das Ernst nehmen? Überhaupt, ist der Bassist von KISS eine glaubwürdige Referenz?

2. Kurt Cobain
Man sagt er mochte ABBA; er engagierte jedenfalls "Björn Again", eine bekannte Tribute-Band als Vorband für Nirvana. Klingt nicht schlecht, hm? (Anm: falls jemand direkte Zitate Cobains kennt, bitte ich um Mitteilung).

3. Pete Townsend

Nannte "S.O.S." immerhin wiederholt die "Beste Popsingle aller Zeiten". Aber ist er nicht seit spätestens 1972 taub? (Es gibt irgendwo einen anderen Beleg als den hier, aber mein Gedächtnis läßt mich im Stich.)

4. Elvis Costello

Der schreibt in den Linernotes zu "Armed Forces" (2002 Deluxe Ed.) immerhin:
Our musical navigation came from the handful of albums about which we could all agree, records to which we listened with a disturbing and almost ritualistic frequency. These included Station To Station, Low, and Heroes by David Bowie [...] The Idiot and Lust For Life by Iggy Pop, Autobahn by Kraftwerk and several early compilations by ABBA - including the Swedish language versions that we contrarily swore were superior to the U.K. releases.
Später spricht er noch von einem "no small debt to ABBA's "Dancing Queen"" im Zusammenhang mit "Oliver's Army". Aber Costello, der alles vom Streichquartett über die Jazz Bigband bis hin zur Kollaboration mit Paul McCartney ausprobiert hat, ist wohl auch keine endgültige Autorität.

5. - jetzt kommt's -
ABBA’s earlier glam-pop had been highly appreciated by leading punk names such as Joey Ramone, Joe Strummer of The Clash and The Sex Pistols’ Glen Matlock – the latter even finding inspiration for his ‘Pretty Vacant’ guitar riff in ‘SOS’
So schreibt Carl Magnus Palm in den Liner Notes zu "ABBA - The Album" (Deluxe Edition), nachzulesen hier
Dazu kommen Bono, Chrissie Hynde usw usf., die alle positiv von ABBA sprechen, Madonna und die Fugees, die als einzige die Erlaubnis bekommen, ABBA zu samplen ("Gimme! Gimme! Gimme!" und "The Name of the Game"). Aber ein Sample ist schnell gefunden und ein paar zentrale Figuren des Punkrock ohne Quellen im Kontext von ABBA-Linernotes zu zitieren ist wohl kaum objektiv. Abgelehnt.

Eine schöne Liste, aber zwecklos. Ich habe versucht, ohne Argumente zu argumentieren, jetzt wird es ernst. Ich gebe zu, ich mag ABBA. Nicht alles natürlich, aber mehr als die zwei drei (acht neun?) bekanntesten Singles allemal. Interessanterweise gibt es kein ganzes Album der Band, das man sich (lies: ich mir) ohne hie und da etwas peinlich berührt zu sein am Stück anhören kann. Gleichzeitig aber kann man diese nicht ohne weiteres abtun. Faszinierende Songs sind auch abseits der Singles zu finden. Betrachten wir also den Katalog ABBAs (ich habe praktisch alles bis auf "Ring Ring" und "Waterloo" zur Hand).

I: Die Texte


Auf diesem Blog gab es einst eine Top5 der schlechtesten Abba-Songzeilen. [*] Kurz darauf einen Beleg, wie wenig ernst die Texte bisweilen in der Band genommen wurden. Aber die Texte wurden auch umgearbeitet, sogar völlig umgekrempelt (wir lesen in
den Arrival-Linernotes, daß "Money, Money, Money" fast "Gypsy Girl" geheißen hätte). Man hat vielleicht den Eindruck, daß es durchaus wirklich gute Songzeilen, oder gar -texte bei ABBA gibt, aber eine Suche beim Lesen der Lyrics führt nicht weit. Weniger wegen der zweifelhaften Grammatik und Idiomatik (daß Manager Stig Andersson Mitte der 70er aufgehört hat, Texte zu schreiben wirkte sich allerdings eher positiv aus) - als wegen eines generellen Mangels an sprachlicher Subtilität: seltsam gefühllose Phrasen ("But I know I don't possess you | So go away, God bless you", aus "My Love, My Life"), Melodrama ("Walking through an
empty house, tears in my eyes [...] In these old familiar rooms children would play | Now there's only emptiness, nothing to say", aus "Knowing Me, Knowing You"), sentimentales Gewäsch ("There's a special love | Like an eagle flying with a dove" in "That's Me"), und endlose Platitüden ("The city's a jungle, you better take care" aus "Tiger"). All diese Beispiele stammen von Songs auf Arrival.

Nur selten werden die Texte spezifisch und nachvollziehbar. Die Zeile "I was sick and tired of everything | when I called you last night from Glasgow" (wohl wegen des Reims mit "last show", aber immerhin) allein etwa gibt "Super Trouper" eine zusätzliche Dimension, die die Vorgänge um vieles glaubwürdiger macht.
Natürlich, man weiß, wovon ABBA singen, unter all der Tollpatschigkeit des Ausdrucks gibt es erahnbare emotional nachvollziehbare Geschichten und Gefühlszustände. Aber das ist nicht das Maß für Songtexte. Wenigstens nicht für mich. Tatsächlich scheint mir dies einer der wesentlichen Gründe dafür zu sein, abgesehen von catchy Melodien und Hooks, daß ABBA so überaus erfolgreich sind. Die breite Masse will ihre Kunst selten allzu kunstvoll.
Aber die wahre Wirkung der Texte entfaltet sich wohl erst in Verbindung mit der Musik selbst - dazu später mehr.

Wenngleich man ABBA den Punkt zugestehen muß, daß viele ihrer Songtitel sehr einprägsam und oft auch suggestiv sind ("Knowing Me, Knowing You", "Does Your Mother Know", "Chiquitita", "Like An Angel Passing Through My Room", "Take A Chance On Me", "The Name of The Game", "The Winner Takes It All"), gibt es doch mindestens ebenso viele die sich kopfüber in einen dunklen Abgrund stürzen: "Put On Your White Sombrero", "Bang-A-Boomerang", "Dum Dum Diddle", "When I Kissed The Teacher", "Hey, Hey Helen", "Lovers (Live A Little Longer)".
Zuletzt - wenn ich mich entscheiden müßte: mein Lieblingstext von ABBA ist sicherlich der von "S.O.S", die beste Zeile vielleicht "Soldiers write the songs that soldiers sing" ("Soldiers"), die charmanteste wohl aus "Thank You For The Music": "Mother said I was a dancer before I could walk."


II: Die Musik


--- natürlich der um vieles interessantere Teil; aus Zeitgründen allerdings erst in einigen Tagen online.

[*] Ich bin nach wie vor mit meiner Selektion einverstanden, auch wenn ich die Beschreibung aus "Lay All Your Love On Me", wie der Mann die Erzählerin herumkriegt einfügen würde: "It was like shooting a sitting duck" (!)

Saturday, 3. November 2007

Doppelbelichtungen: What Is And What Should Probably Not Be

[Doppelbelichtungen ist eine neue Reihe von Essays über Musik und Literatur, die sowohl die portraitierten Künstler als auch den Portraitisten und seine Subjektivität darstellen sollen. Sie sind bewußt in einer autobiographischen Form verfaßt, wiewohl sie auch für den nicht am Persönlichen interessierten Leser einen Reiz haben sollten.]


Eine Variation auf Coleridges Konzept der "wilful suspension of disbelief" - nämlich die, das Kunstwerk als Kunstwerk zu akzeptieren, und aus seinen eigenen Parametern einen kritischen Standard zu entwickeln - ist in der Praxis weniger elegant umzusetzen als es der Gerechtigkeit halber sein sollte. Aber es gibt eine Gerechtigkeit auch gegenüber dem Kritiker, und wenn man sich vor unruhiger Peinlichkeit gar nicht erst durch ein Oeuvre zu hören schafft, muß das auch Gründe haben: sie zu erforschen ist vielleicht der beste Weg, mit seinen Reaktionen zu Rande zu kommen.

Die erste Frage, die es zu klären gilt, scheint einfach genug: sind acquired tastes auf irgendeine Art den "echten" gut-reactions unterlegen? Die angelernten Geschmäcker, die bei Käsesorten ebenso zutreffen können wie bei Zwölftonmusik, sind in meinen Augen nur Synonyme für das Verstehen einer Eigenart und dementsprechend viel eher als die von vornherein positive Reaktion das Ergebnis eines Prozesses der Auseinandersetzung. Tatsächlich habe ich den Verdacht, daß man, was man intuitiv gut findet seltener hinterfragt. Man muß natürlich nicht, aber es könnte einem doch noch unvermutete Aspekte erschließen. Ein klares Nein also.
Auf der anderen Seite scheint es mir völlig ausgeschlossen, eine negative gut-reaction, das vielzitierte Bauchgefühl, zu überlisten. Sobald man eine Antipathie zu einem Stück Musik, einem Geschmack gefaßt hat, wird man sich das Stück Musik, um bei unserem Feld zu bleiben, kaum gutreden können. Das fahle bleibt unweigerlich ein Teil der Wahrnehmung.

Wozu überhaupt die ganze Aufregung? Wenn man etwas nicht mag - dann läßt man es bleiben. So einfach wär's, wäre da nicht gleichzeitig ein unscharfer Reiz, eine Faszination - die vielleicht zum Teil vom Renommee der Musik herrührt - die ein simples Abtun als allgemeinen Irrtum verhindert. Neben Gustav Mahler gibt es für mich nur eine weitere musikalische Erscheinung, die ein derartiges Hin- und Hergerissensein auslöst: Led Zeppelin.


Über lange Jahre hinweg stand es für mich - in jugendlichem Ungestüm - außer Frage, daß die Band unmöglich war, eine pompöse, pathetische, misogyne, selbstherrliche, abstoßende, ironielose Formation, die mehr mit 70er-Stadionrock-Phänomenen zu tun hatte, als mit seriöser, glaubwürdiger Musik. Und doch kamen immer wieder kleine Impulse auf, ich will sie noch nicht Zweifel nennen, die vor allem von Menschen herrührten, deren musikalische Meinung ich für allgemein glaubwürdig hielt, und die etwas in der Band zu hören schienen, das mir verborgen blieb. Die Gravitation in Richtung der Alben III und IV, mit ihren wahnwitzigen Fantasy-Szenarios à la "The Battle Of Evermore", Blaupause für allerlei pompöses, pathetisches, und vor allem grenzenlos peinliches in der Progrockschiene (Genesis' "Dancing with the Moonlit Knight", Yes, die frühen Queen, Jethro Tull...), scheint mir aus heutiger Sicht ein wesentlicher Grund für mein Unverständnis zu sein.
Zugegebenermaßen sind diese nur ein Aspekt der Alben, doch die pubertäre Lyrik ihres Pseudomittelalters und der keltischen Mythen aus zerlesenen Tolkien-Ausgaben ist mir nach wie vor unerträglich. Vor allem die unbeschreibliche qualitative Disparität zu authentischen mittelalterlichen Texten und deren Glaubwürdigkeit (Chrétien de Troyes, Wolfram von Eschenbach, Geoffrey Chaucer, sogar Hartmann von Aue) ist wie ein Hohn. Freilich - die Vorlage für Fantasy-Lyrics ist die Fantasyliteratur des 20. Jahrhunderts und nicht die authentischen Quellen, obwohl diese Quellen für Tolkien etwa von großer Bedeutung waren. Man argumentiert allerdings auch nicht mit Robert Browning gegen Paul Simon.

Symptomatisch für diesen Zugang ist natürlich auch die lächerlich-obskure Symbolik eines Textes wie "Stairway To Heaven". Von undurchsichtigen Passagen ("your stairway lies on the whispering wind"), hin zu banalen Klischees ("in a tree by a brook there's a songbird who sings..."). Und dennoch, wenn nach dem anachronistisch-kammermusikalischen Anfang gegen 2:20 die satten Gitarren einsetzen, ist es kaum möglich sich eines wohligen Gefühls zu erwehren. Der Sound selbst ist es, viel mehr als WAS gespielt wird, der einen ergreift. Nicht genug für ein so langes Lied, aber ein Anfang. Gegen 4:20 holt der unmittelbare und doch synkopierte und unvorhersehbare Rhythmus John Bonhams die Aufmerksamkeit des Hörers, der zugegebenermaßen schon wieder an anderes dachte in die Mitte des Stücks zurück. Und nach einem weiteren Zyklus des Abdriftens packt einen ein Tonartwechsel und ein dichter Soloteil nicht mehr an den Schultern ("schau, was wir jetzt machen, ist das nicht nett?") sondern irgendwo in den Eingeweiden ("nimm das!"). Der Schlußteil mit seinen Rock-N-Roll Rhythmen verspricht einiges, doch gerade als sich eine Wall of Sound aufbaut ist der Song vorbei. Eine Enttäuschung nach einer so blendenden Erscheinung.

Ich gebe zu, oft genug ist es Plants Stimme allein, dieses schneidende Falsett, das mir die Lust an Zeppelin nimmt, doch der Reiz, der von den wenigen Minuten in "Stairway To Heaven" ausging, trieb mich wenigstens soweit, nach einer Compilation, die ich mit 14 oder 15 gekauft hatte, auch ein paar der regulären Alben zu kaufen. Led Zeppelin I zeigte mir die Bluesrockseite der Band, und es war tatsächlich der satte Sound der Rockband, mal elektrisch, mal akustisch ("Babe I'm Gonna Leave You") in den ich mich verliebte, noch bevor ich großes Interesse am Rest zeigte. Noch immer finde ich die selbstherrliche und betont maskuline Seite der Texte bisweilen peinlich. Aber die Texte, soviel ist mir mittlerweile klar, sind überhaupt nicht dazu da, eine echte Botschaft, eine Aussage zu vermitteln, oder - um der pseudo-politischen Assoziation des Wortes zu entrinnen - eine Geschichte zu erzählen. Sie übersetzen nur in wenige, oft wiederholte Worte, was die Musik von Anfang an suggeriert: sie sind Ausdruck einer sexuellen Energie, die sich selbst genügt. Was Rock N Roll mit synkopierten Achteln und pulsierendem Bass macht, vollbringt die Stimme Robert Plants mit Schreien und suggestiven Phrasierungen einiger simpler Aussagen ("you know you shook me, you shook me all night long" etc.). Der musikalische Sex des Rock N Roll und das musikalische Leid des Blues verbinden sich, und haben es schwer, nicht ein überhöhtes und wahnwitzig unausgewogenenes Bild der Selbstdarstellung zu vermitteln. Wieso sollten sie auch? Die Gitarre gibt ihnen Recht, was immer man sonst davon halten mag.

Doch trotz des Schmutzes und des Schweißes und anderer Körperflüssigkeiten, vermisse ich auch hier etwas. Man mag es Transzendenz nennen, oder Vielfalt. Die ersten beiden Zeppelin-Alben machen Spaß, von Zeit zu Zeit, aber sie reißen mich nicht unmittelbar mit. In anderen Worten, wenn ich nicht in der Stimmung dafür bin, liegt es nicht in ihrer Macht, diese Stimmung zu erwecken.

Aber auch hier gibt es einen Silberstreif am Horizont. Die beste Phase Zeppelins, weiter weg von den mystisch eingefärbten Rockstücken von III und IV (diese kommen in der Tat schon früher vor, vgl. "Ramble On") - "Custard Pie", "Night Flight", "D'Yer Mak'er", "Houses Of The Holy",... Was es ist, das Houses Of The Holy und Physical Graffiti zu den besten Zeppelin-Alben macht, ist nicht zu überhören. Der Funk, die Apotheose der Synkope, durchzieht Songs wie "The Song Remains The Same" von Anfang an. Wir finden auch die Elemente wieder, die früher störend wirkten. Plants Falsett scheint mir hier auch nicht viel besser zu sein als anderswo, aber es integriert sich in den Mix wie ein Instrument unter vielen. Die Mystik, oder besser: die Mythologie - die des Wanderers, des einsamen Künstlers, die des Helden gegen die Welt - ist auch in der Spätphase Zeppelins zu spüren, aber sie ist keine einfache Position des Sängers und seines Liedtextes mehr, sie entsteht aus der Musik selbst. Dazu sind auch keine Flöten und Mandolinen mehr notwendig, die eine künstliche Atmosphäre eines unwahrscheinlichen Spätmittelalters erzeugen sollen und dabei nur ihre eigene beschränkte Aussagekraft bezeugen. Das Sonnenlicht, das in "The Rain Song" beschworen wird, bricht in Form einer warmen Gitarre durch den Schleier der Produktion: die Skala selbst, die die Akkorde umspielt, vermeidet die Grundtöne und macht die Tonalität des Liedes unscharf genug, um diese für den Text stehen zu lassen.
Die Unsicherheit des rhythmisch variablen Riffs in "Over The Hills and Far Away" repräsentiert gleichzeitig die versuchte Annäherung, die der Text auf seine Art vermittelt. Die Frage, ob Text oder Musik vorher da war - ganz abgesehen davon, daß sie beide gleich wichtig werden - ist nicht mehr zu beantworten. Ein weiter Weg von der suggestiven Untermalung eines körperlichen Rhythmus der frühen Songs oder der Textlastigen der "Stairway"-Phase.

Hier schließlich finde ich auch genug Substanz, um die Arbeit der Band auf ihre eigene Art zu beurteilen. Ich habe das Gefühl, mich nicht mehr so stark mit werkfremden Konzepten auseinandersetzen zu müssen, um den Songs und Platten beizukommen. Die Frage nach der Qualität der einzelnen Tracks ist damit nicht beantwortet. "The Crunge" oder "In The Light" sind mir immer noch nicht geheuer, aber wenigstens scheint es mir leichter, auf sie zu reagieren. Die Antipathie, die ich nach wie vor gegen III und IV hege, ist ebenso erklärbar; ich muß nicht eine falsche Simplizität beschwören (die Zeppelin nie hatte - sonst würden sie etwa aus einem Riff-Rocker wie "Whole Lotta Love" ein 2 Minuten Stück machen und wären nie auf die Idee gekommen, diesen seltsamen Mittelteil einzufügen), kurz: Ich habe endlich eine haltbare Position der Band gegenüber.
Ich erwärme mich tatsächlich immer mehr für Led Zeppelin, aber es sind meine Zeppelin, nicht die der Rockkritiker und 70er-Fans. Meine Zeppelin überragen ihre Zeit. Wer braucht schon "Stairway To Heaven."

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roland_and_his_burning_nose - 27. Apr, 21:26
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